Das Wahlverhalten der türkischen Diaspora als Konsequenz des weltweiten Rechtsrucks

 

Zahlreiche Politiker, Journalisten und politische Beobachter attestierten vor, während und nach dem türkischen Referendum zur Änderung der bestehenden Verfassung türkischen Wählern in Europa und darüber hinaus einen Hang zum Autoritarismus. Unterschiedlichste Gründe wurden und werden für das Wahlverhalten vorgelegt. Beispielsweise, dass die politische Sympathie für Autoritarismus auf die anatolische Herkunft zurückzuführen ist oder die türkischen Bürger – im Gegensatz zu anderen Einwanderern – weniger Bereitschaft zeigen, sich in bestehende Mehrheitsgesellschaften zu integrieren. Bei der Argumentation wird gerne ausgeblendet, dass in vielen Ländern wie etwa Deutschland, Großbritannien, Niederlande, USA oder Staaten Osteuropas seit Jahren der Ruf nach einem starken Mann und Autoritarismus immer lauter wird und das Wahlverhalten türkischer Bürger in diesem Kontext die Entwicklungen in europäischen oder außereuropäischen Staaten widerspiegelt und deswegen in diesem Zusammenhang evaluiert werden sollte.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung der ersten Wahlergebnisse bzw. Wahlverhalten türkischer Bürger in Europa oder außerhalb, wurde die Frage aufgeworfen, weshalb die türkischen Wähler bspw. in Deutschland, Niederlande oder Österreich so wenig mit europäischen Werten wie etwa Demokratie oder Rechtstaatlichkeit sympathisieren. Sowohl sozialistische, bürgerliche, freiheitliche als auch alternative Parteien erklärten, dass die Loyalität der in ihren Staaten lebenden Türken zum türkischen Staat ein klarer Beweis für die fehlgeschlagene Integration sei. Konkrete politische Schritte müssten gesetzt werden, wie etwa das Verbot von Doppelstaatsbürgerschaften, damit sich Teile der türkischen Einwanderungsgesellschaft nicht weiter autoritäre Ideologien aneignen.

Ein kritischer Blick auf die Wahlbeteiligung in Europa und den USA zeigt, dass das Wahlverhalten der türkischen Diaspora mit dem allgemeinen politischen Rechtsruck korreliert. In Belgien stimmten 76,7% für Ja und 23,3% für Nein; in Österreich stimmten 73,7% für Ja und 26,1% für Nein; in Niederlanden stimmten 70,9% für Ja und 29,1% für Nein; in Deutschland und Frankreich jeweils 63,1% bzw. 64,8% für Ja und 36,9% bzw. 35,2% für Nein. Wird die Wahlbeteiligung und Stimmenabgabe genauer betrachtet, so stellt man fest, dass die Annahme, türkischer Bürger seien demokratieresistent, modifiziert werden muss. Bspw. waren in Deutschland mehr als 1,4 Millionen Personen berechtigt, ihre Stimme abzugeben. Nur 697.435 tausend Menschen waren bereit, zur Urne zur schreiten und davon haben 400.000 tausend für ein Ja gestimmt. Anders gesagt: weniger als 49% der Wähler waren bereit, am Referendum teilzunehmen. Auch für die Niederlande lässt sich ein ähnliches Bild nachzeichnen. Von mehr als 250.000 Wahlberechtigten haben sich 118.322 Menschen zur Wahl registriert, davon stimmten 82.600 für Ja. In Belgien und Österreich war die Wahlbeteiligung weit geringe als von den Medien dargestellt und somit sind ernsthafte Zweifel an der Autoritarismus-Vorliebe-These türkischer Bürger angebracht.

Interessanterweise sind es vor allem die genannten Länder, die türkischen Bürgern fehlende Loyalität und Integrationsunwilligkeit vorwerfen, in deren politischen Systemen ein Rechtsruck wahrzunehmen ist oder populistische Parteien durch ihre Kritik an einem pluralistischen und liberalen Europa den Parteien der Mitte Wähler abringen. In Deutschland, Frankreich, Österreich, Belgien und den Niederlanden haben rechtspopulistische Parteien durch ihre Exklusionspolitik bzw. „nationsfreundliche“ Politik viele Großparteien schwächen können und letztere dazu verführt, selbst politische Positionen ihrer Gegner rechts außen zu übernehmen. Die politische Agenda des zukünftigen Parteichefs der Österreichischen Volkspartei wäre ein aktuelles Beispiel hierfür. Die AKP beobachtet das Abdriften der europäischen Politik nach rechts aufmerksam und bietet den Wählern in der Diaspora mit ihrer autoritären politischen Agenda Halt und Sicherheit. Sie stellt die türkische Minderheit als „Opfer“ dar und sich selbst als „Retter“ und gewinnt dadurch an Zustimmung.

Das Wahlverhalten der Türken in Europa und darüber hinaus ist weniger bedingt durch ihre anatolische Abstammung oder Integrationsunwilligkeit – auch wenn diese Faktoren sicherlich einen Einfluss haben -, sondern vielmehr durch die sozialistischen und konservativen Parteien Europas, die ihre eigene pluralistische und demokratische Tradition in Frage stellen, um rechtspopulistischen Parteien Stimmen abzugewinnen. Auch die globalen Entwicklungen fördern derzeit offensichtlich den Wunsch vieler Bürger nach mehr Autorität.